Sebastian Winkler – a state of flux
Reflector Contemporary Art Gallery, Bern
10. Juni – 25. Juni 2022
Text: Marta Kwiatkowski
Oft sind fertige Kunstwerke das Ergebnis eines langen Schaffensprozess, der von Versuchen, Recherchen und handwerklicher Umsetzung bestimmt und beeinflusst ist. Gleichzeitig stehen Werke immer auch in Bezug zu vorausgegangenen, früheren Arbeiten und entwickeln diese weiter. So lassen sich die konzeptuelle Haltung und die Interessen der Künstler*innen in einem grösseren Zusammenhang sehen und neue Arbeiten in diesen einordnen. Es entsteht das Bild eines kontinuierlichen Prozess der künstlerischen Produktion, aufeinander folgend und aufbauend, ein Werk schaffend. Doch wann entstehen die Ideen für einzelne, aktuelle Arbeiten und welche Bedeutung hat dieser Moment für Form und Inhalt?
Eine Gemeinsamkeit von Sebastian Winklers jüngsten Installationen und Papierarbeiten liegt darin, dass ihr gedanklicher Ursprung sehr spät am Abend, oder früh am Morgen zu finden ist. Im langen Verlauf der Dämmerung, einem fliessenden Prozess des Übergangs, tauchen Motive und Themen auf, die von frühen Erinnerungen und aktuellen Beobachtungen geprägt sind und für den Künstler zum Ausgangspunkt neuer materialbasierten Installationen und Papierarbeitsserien werden.
Beginnend mit eben jenem atmosphärischen Wechsel vom Tag zur Nacht bilden sogenannte Nachtstücke (Nocturnes) in Kunst und Musik ein eigenes Genre. Vor allem im Barock und der Romantik wurde der von zunehmend starken hell-dunkel Kontrasten bestimmten Phase nach Ende des Tagesablaufs, eine besondere und intensive Dramatik beigemessen, die ihren Ausdruck in realistisch-naturalistischen Darstellungen verschiedener Szenen fand. Winkler hingegen bildet nicht die stimmungsvolle Szene ab, sondern isoliert die in dieser auftauchenden Motive seiner Erinnerung und überführt sie in leuchtend pinke oder tief schwarze und weisse Skulpturen und Zeichnungen.
Es sind keine Inszenierungen als „Nachtstücke“, obwohl sie genau zu dieser Tages-, bzw. Nachtzeit entstanden sind, vielmehr verweisen die Arbeiten auf den Gehalt und die immer wiederkehrende Präsenz von Themen im Schaffen des Künstlers. So findet sich beispielsweise das Motiv der Scholle bereits in einer Collage von 2011, oder in einer Serie von Kohlezeichnungen 2013. In der Arbeit „o.t.(scholle, eis), 2022“ kehrt das Motiv nun installativ wieder, als tiefschwarze Form auf einem verspiegelten Sockel.
Dass Winklers Arbeiten zwar immer aktuelle Auseinandersetzungen, aber gleichzeitig eine kontinuierliche Weiterentwicklung seines Werks sind, wird auch an einer anderen Stelle deutlich: Bereits in einer seiner ersten Ausstellungen 2011 ergänzt er die Installation einer „strengen reihe“ von Dauerdosen um Tusch-Zeichnungen, die metallische Gegenstände zeigen. Wie Requisiten berichten sie von einem Ereignis, das nicht benannt wird, und doch in der Vorstellung der Sehenden zu einer Erzählung wird. Hier taucht das Motiv der Kette das erstes Mal auf und findet jetzt eine neue Interpretation in der grossen Papierarbeit „o.t. (kette), 2022“.
Die Grenze zwischen Gegebenem und Vorgestelltem bleibt in Winklers Arbeiten fliessend. Sowohl seine Skulpturen, als auch seine neuen Arbeiten auf Papier zeugen von einem hintergründigen Interesse an Formen und Farben, lassen aber durch den gewählten Grad der Abstraktion, ein hohes Mass an Aneignung durch die Betrachtenden zu. Ihre Bezüge und Zuschreibungen erhalten dadurch oft eine gleiche Bedeutung wie die Intention des Künstlers.
Der zeitlich Ursprung der neuen Arbeiten lässt sich, neben den inhaltlichen, möglicherweise auch in formellen Aspekten wiederfinden: So bilden die meist monochromen, wenigen Farben starke Kontraste (pink, bzw. haut- und fleischfarben, schwarz und weiss) und betonen durch die minimalistischen Formen die rätselhafte Atmosphäre, die viele von Winklers Arbeiten umgeben.
Ein ganz unmittelbarer Bezug zu den atmosphärischen „Nachtstücken“ lässt sich schliesslich bei der Serie „o.t. (nocturnes), 2022“ ziehen, bei der die Notenblätter von Chopins gleichnamigen Zyklus die Träger der abstrakten Formen werden, die von Sebastian Winkler mit Spraypaint aufgetragen werden.
Die Ausstellung a state of flux zeugt auf verschiedenen Ebenen vom Zustand des Wandels, als kontinuierlichem Prozess der Veränderung, der immer in Bezug zu Vorangegangenem steht und doch den Blick öffnet auf das was möglich und vorstellbar bleibt.
Pastellfarbene Stoffe sind das dominierende Material der Wandinstallation im hof, am fluss, die Sebastian Winkler aus vierzig Einzelarbeiten unterschiedlicher Crêpe de Chine–Gewebe für die Ausstellung entwickelt hat. Das augenfälligste Merkmal, der an Formen und Struktur verschiedenen Stoffe, ist ihr Farbspektrum, das in vielen Abstufungen von hellhautfarben bis fleischig-pink reicht. Mit dünnem silbernem Draht sind die einzelnen Stoffe zu abstrakten Objekten geformt, die sich neben der Oberflächenstruktur auch in Grösse und Ausprägung unterscheiden: Aus rigide zusammengeschnürten Bereichen wachsen immer wieder stoffliche Blüten heraus, die dem Regime des Drahtes entweichen konnten.
Positioniert sind die plastischen Stoffobjekte auf zwei breiten Papierbahnen. Mit ihrem minimalistisch-geometrischen Raster aus dunkelblauen Farbstiftzeichnungen bilden sie mit ihrer Kachelästhetik einen kühlen Kontrast zu den unregelmäßigen Formen der hautfarbenen Stoffobjekte. Der neutralen Wandfläche des Ausstellungsraums wird durch die großformatigen Zeichnungen ein prägnantes Merkmal hinzugefügt, das auf ein wie auch immer zu imaginierendes Geschehen in einem Hof an einem Fluss hindeutet.
Crêpe de Chine ist ein sehr feiner und manchmal fast durchscheinender Textilstoff, der sowohl für Kleider, als auch für Innenfutter Verwendung findet. Ab den 1920er-Jahren waren Entwürfe aus pastellfarbenem Crêpe de Chine, dessen Oberflächenstrukturen von leicht rau bis glatt reicht und teilweise ähnlich wie Seide glänzt, in der Haute Couture und Prêt-à-porter-Mode äusserst erfolgreich. Wurden die Gewebe für die gehobene Mode zunächst aus Naturseide gefertigt, so setzten sich später für den Massenmarkt aus Polyester gefertigte Texturen durch.
2019 wurde Sebastian Winkler eingeladen, im Archiv der Robert Schwarzenbach & Co AG in Thalwil (ZH) zu recherchieren. Seither verwendet er für seine Arbeiten die teils historischen Stoffe des einst grössten Textilproduzenten der Welt. Wie jedes andere Stoffmuster, das in den Jahren der dortigen Textilproduktion (bis 1986) in das hauseigene Archiv gelangte, sind auch die Crêpe de Chine-Stoffe, die Sebastian Winkler für die Installation im hof, am fluss verwendet hat, originale Stoffe aus den 1910er- und 1920er-Jahren. Vor allem die teils poppige Farbigkeit einiger Stoffe mag dabei erstaunen.
Materialien - seien es Stoffe, Metalle oder Steine – kommen mit der Historizität ihrer technischen und kulturellen Produktion bzw. Verwendung und mit all den dadurch entstandenen gesellschaftlichen Kontexten und Narrativen eine zentrale Rolle im Werk von Sebastian Winkler zu. Seine materialbasierten Arbeiten wurden bereits als ein „musée des matériaux“ bezeichnet, so der gleichnamige Titel einer seiner früheren Kataloge. Der Begriff verweist auf die konzeptuelle Ebene des Entstehungsprozesses und ist abgeleitet von „musée imaginaire“, einer bildwissenschaftlichen Theorie von André Malreaux, die durch eine imaginierte Ausstellung im Buchformat erweitert wurde. Malreaux‘ Ansatz, fotografische Abbildungen von (Kunst-)Werken aus unterschiedlichen Zeiten und Kontexten intuitiv gegenüberzustellen, ist Winklers Ansatz insofern verwandt, dass der Künstler vertraute Materialien unter ähnlich subjektiven Gesichtspunkten zu dreidimensionalen Arbeiten zusammenfügt. Sebastian Winkler erforscht so die dem Material inhärenten erzählerischen Möglichkeiten und Imaginationen.
Obgleich die realen haut- und fleischfarbenen Stoffe in Sebastian Winklers Installation im hof, am fluss, die minimalistischen Zeichnungen und die titelgebende Ortsangabe eine vermeintliche Verortung zu ermöglichen scheinen, so stehen sie doch dem Grad der Abstraktion aller Bestandteile gegenüber und bleiben subtile Anspielungen, die erst durch die jeweils individuellen Erinnerungen und Vorstellungen der Betrachtenden zu einer Geschichte werden können.
Sebastian Winkler - im hof, am fluss
Kunstraum dreiviertel, Bern
10. Dezember 2021 - 02. Januar 2022
Text: Dr. Andreas Beitin
Sprache und Motiv – Gedanken zu Sebastian Winklers Poetik-Arbeiten
Text: Dr. Christina Irrgang, 2022
Überlegungen zum zeitgenössischen Gebrauch von Sprache führen mich – selbst literarische und poetische Texte verfassend – immer mehr zu der Beobachtung und Überzeugung, dass unser Denken und Sehen von einer in sich kreisenden Wahrnehmung gespeist wird. Anders, als die staccato-hafte Summierung von Buchstaben
und Lauten in den dadaistischen Gedichten der Moderne etwa, vollzieht sich die Neuordnung der Sprache zunehmend in Schlaufen. Das Loslösen von der Syntax und die Inversion aufeinander aufbauender Sprachelemente lässt im Umgang mit Sprache mehr Autonomie für Konstellationen zu – ein Gedanke, den Eugen Gomringer 1954 mit seinem Manifest der Konkreten Poesie „Vom Vers zur Konstellation“ bestrebt gewesen ist, anzustoßen. Ein Nahelegen also, sich losgelöst vom Vers nun der Sprache, wie sie da spezifisch ist und sein will, hinzugeben. Das bedeutet: Ordnung und das Spiel mit der Ordnung in ein Equilibrium zu bringen und synthetisch-rationalistische Ausdrucksformen, wie sie die Konkrete Poesie als Raum des Möglichen verteidigt hatte, weiterzudenken.
Sebastian Winklers Poetik-Arbeiten berichten vom Handwerk des Konkreten, und doch überwiegen in seinen Texten nicht allein Elemente der Sprache, die in ihrer Zusammensetzung neue Sinn- und Denkgefüge bilden: Sprache weitet sich wie eine Landschaft, die in einem sich verdichtenden Blick wächst, szenisch-literarisch aus. So formen sich immaterielle Bilder durch Worte, wie sie der Bildende Künstler Sebastian Winkler auch in seinen grafischen und plastischen Werken unter anderem durch textile Objekte und abstrakte Kompositionen erzählt – stets in Rückbezug auf einen spezifischen Moment, der privat Erlebtes sowie teilnehmend Beobachtetes umspannt und zueinander in Beziehung setzt. Durch das Auslassen, Erweitern und Umdeuten von Worten etwa lassen sich in seinen poetischen Texten differenzierte Zusammenhänge erkennen, die menschliche Muster und Bedeutungszuschreibung miteinander verketten oder Perspektiven ineinander verweben. So entstehen vermeintliche Zustände des Unkenntlichen, und doch legt jedes Wort in purer Klarheit die Aussage eines jeden Gefüges offen. Sebastian Winklers Benennungen werden dabei vielmals von einer präzisen Akustik des Sprachlichen begleitet, die um einen einzelnen Buchstaben oder um Wortschichten herum vibrieren und den Raum, den sie zu skizzieren ersuchen, wie eine physische Erfahrung präsent machen. Dieser visuelle wie auch akustische Transfer zeichnet seine poetischen Texte in besonderem Maße aus und lässt sie autonome Stimmen sein in einem umfassend künstlerischen Werk.
Die Vielfalt des Erinnerns ist essentiell in Sebastian Winklers künstlerischen Arbeiten und so ist sie auch grundlegend für die Betrachtung seiner poetischen Texte. Als ein frühes und wichtiges Beispiel, das die Verbindung von Visueller Kunst und Literatur in seinem Werk markiert, gilt der Text „herrenschneiderin“ (2013), in dem die Erinnerung ein strukturelles Element ist und Texturen des Wirklichen mit assoziativ Verknüpftem verlautbart werden. Sechzehn Erinnerungen an seine Großmutter generieren hierbei durch fragmentarische Notationen eine Erzählung. Jede Sequenz beschreibt eine Situation, die in ihrer Zunahme an vermeintlicher Information das skizzierte Bild zu verdichten scheint. Und dennoch verharrt die Gesamtkomposition im Geheimnis. Zwischen jedem in der Sprache (wieder) aufgeführten Moment öffnet sich ein Raum der Stille, der erlaubt, neue gedankliche Schneisen zu schlagen.
Das Stilmittel der Wiederholung und Rekombination ist entscheidend für eine Vielzahl seiner Texte, wie beispielsweise in „ich wollte das so nicht“ (2011), „der herr ist mit uns“ (2015), „vielleicht“ (2016) oder „ich bin dein“ (2017). Sebastian Winkler geht in diesen Poetik-Arbeiten von einem Satz aus, den er aus (s)einer vertrauten und ritualisierten Wortfolge entbindet, ja durch Aufbruch und Neuzusammensetzung der sprachlichen Elemente zu umgekehrten oder in sich changierenden Aussagen zwingt. Die Worte kreisen um sich und um mich als Lesende: befragen sich selbst, befragen mich und stellen eine jedwede Aussage durch die Auflösung der zuvor gegebenen Struktur in eine neue Rede. Worte und Sätze durchbrechen das durch eine syntaktisch festgelegte Abfolge generierte Gebot und lösen es in einem ineinander verwobenen Gedankengitter auf. Dadurch erhält jedes Wort und jeder Buchstabe ein der jeweils sprachlichen Konstellation entsprechendes Couleur – eine Komposition aus Lauten, Buchstaben, im Gehör hallenden Tönen, die einem synkopischen Takt nachkommen.
„licht an, licht aus“ (2013) folgt einer Rhythmik, die in der Narration des Gedichtes von dem Betätigen eines Lichtschalters getragen wird. Das in Passagen Erzählte wird durch die Koppelung an einen Mechanismus erhellt und verdunkelt, es richtet sich nach der
Beleuchtung dessen, was zwischenmenschlich situativ aufzuscheinen vermag. Der Wechsel von Bedeutung in Zusammenhang mit intersubjektiver Positionierung ist ein Sujet, das Winkler mit „liebe“ (2015), „konstellationen“ (2015) und „zuhause“ (2016) fortgesetzt hat. Diese Reihe macht in ihrer strukturellen Reduktion deutlich, wie nah einander Wort und gelebte Bedeutung zu sein vermögen. Sprache umschlingt. Und so formulieren „flanieren (wilhelmshöhe)“ (2013) und „strandtag“ (2014) ein stetes abstraktes Rauschen: Die unter gleichförmigen Schritten knirschenden Kiesel und der wiederkehrende Wellenaufschlag kennzeichnen und gliedern das Gefüge der Sprache auf der Buchseite, die durch die klangliche Wiederholung zu einem Ort des Innehaltens wird.
Das Piktogramm „schollen (acker)“ (2012) ordnet repetitiv und ganz direkt das Wort Scholle auf dem Feld des Blattes zum Motiv. Es ist ein solches, das Sebastian Winkler auch dinghaft-visuell als Zeichnung und Collage zum Ausdruck gebracht hat. Es ist auch ein weiteres Beispiel dafür, wie die Sprache als Bild der Gedanken analog zu seinem bildnerisch-materialen Schaffen besteht. Der poetische Text erscheint unter Umständen auch als autonome Figur im Ausstellungsgefüge und ist somit eine ebenso charakteristische Setzung wie jene in seinen Bildern und Installationen. Dann formuliert die Interpunktion in der Sprache eine Referenz zu Falte, Riss und Form des Gewebes seiner Stoffarbeiten oder zum Papier seiner Collagen. Texte wie die visuelle Serie „tischdecken“ – im italienischen, griechischen und internationalen Stil (2016) – umhüllen die Worte Rot und Weiß respektive Blau und Weiß sowie Weiß und Weiß in der ihnen zugeschriebenen Stofflichkeit der Faser und des Fadens zwischen Kette und Schuss. Dass die Verbindung von Buchstaben und Worten dem Zusammenfügen von Gewebe gleicht, zeigt sich vice versa in Winklers Sprachbildern wie bei „la mort l amour“ (2018) oder „massindividualism“ (2019), die durch das Hinzufügen, Verschieben oder Entnehmen von Elementen einander gegensätzliche Bedeutungszusammenhänge hervorbringen.
Sebastian Winklers Poetik-Arbeiten lassen Sprache zum Motiv ihrer selbst werden, die sich dann in ihrem spezifischen Dasein vergegenwärtigt, wenn wir selbst unseren Blick auf das Mögliche ihrer Gestaltfindung präzisieren. Worte streichen aus – und verwandeln. Zwischen Greif- und Vorstellbarem erlauben sie mir als Lesende eine fiktionale und subjektive Aneignung und ondulieren auf diese Weise durch facettenreiche Zustände: Ein erspürter Moment taucht als Möglichkeit auf, verschwindet, kehrt wieder, umkreist und erzeugt andere, individuelle Bezugssysteme. Die hier vorgelegte Publikation „texere [weben]“ bildet erstmals die gesamte Bandbreite von Sebastian Winklers Poetik-Arbeiten der letzten zehn Jahre ab. Der im Titel vereinte gemeinsame lateinische Wortursprung von Text und Textil verknüpft sinnbildlich wie konkret sein künstlerisches und lyrisches Werk, das sich über den Raum dieses Buches entfaltet.
Dieser Text erschien als Nachwort der Publikation Sebastian Winkler – texere [weben], edition taberna kritika, Bern 2022 ISBN 978-3-905846-64-5
Sebastian Winklers poetische und installative Arbeiten wurden als „’Mindmaps’ aus Sprache, Stoff, Material“ beschrieben. Neben Textarbeiten der konkreten und visuellen Poesie steht ein konzentrierter Einbezug von Textilien im Mittelpunkt seines bildnerischen Schaffens. Wand-Objekte, wie barry and michael, können als poetische Portraits aus Erinnerungsfragmenten des Künstlers verstanden werden, die im Zuge einer kraftvollen Materialbearbeitung entstanden. Nach einem kalifornischen Sammlerpaar benannt, das Sebastian Winkler per Zufall auf einer Reise kennenlernte, dominieren in der skulpturalen Interpretation dieser Begegnung edle Seidenstoffe aus den 1930er Jahren, die der Künstler nach mehrfachen Recherchen im Archiv der Robt. Schwarzenbach & Co. AG, Thalwil (Zürich) zur Verfügung gestellt bekommen hat – einer großen Textilfirma, die bis 1982 auch im Weiler Stadtteil Friedlingen ansässig war.
Winkler schafft wohl überlegte, hintersinnige Stoff- und Textkompositionen: o.t. (das garn) bezeichnet sowohl das Sujet, als auch das verwendete Material, dessen geordnetes, mehrfarbiges Arrangement gegenstandbezogen bleibt und zugleich ein abstraktes Bild ergibt. Dieser Ordnung verwandt ist die Textarbeits-Serie tischdecken – es sind Übersetzungen verschiedener Tischtücher in Worte, für die sich der Künstler auch einigen Klischees aus dem Restaurantbetrieb bedient hat. Mit einem ähnlich kodierten Vorstellungsbild operiert er in der Arbeit texere, die auf dem internationalen Buchstabieralphabet basiert, das bei der Kommunikation im Funk- und Flugverkehr angewendet wird und die klassische, textile Leinwandbindung in ein flächiges Text-Geflecht übersetzt.
english version
Sebastian Winkler’s poetic installation works have been described as “’mind maps’ of language, fabric, material’”. Aside from text works of concrete and visual poetry, a concentrated inclusion of textiles is at the center of his artistic work. Wall objects, such as barry and michael (2019), can be understood as poetic portraits from the artist’s memory fragments, which resulted from a vigorous treatment of materials. Named after a collector couple in California, which Sebastian Winkler became acquainted with by coincidence during a trip, fine silk fabrics from the 1930’s dominate in this sculptural interpretation of the encounter. The artist was provided with the materials during several research visits to the archive of the Robt. Schwarzenbach & Co. AG, Thalwil (Zurich) – a large textile company, which was located in the Friedlingen district of Weil am Rhein until 1982. Winkler creates well-considered, profound textile and text compositions: o.t. (das garn) indicates both the subject and the used material; the ordered, multi-colored arrangement remains representational and, at the same time, results in an abstract image. Akin to this underlying order is the text-work-series tischdecken– translations of various tablecloths in words, for which the artist has used clichés from the restaurant business. A similarly coded conception is the operational logic of texere, which is based on the international phonetic alphabet, used to communicate in radio and flight traffic. Here, the classic plain weave is translated into a flat text-mesh.
DRESS CODE
Kunstverein / Städtische Gallerie Weil am Rhein
23. November 2019 – 19. Januar 2020
Katalogtext: Martin Hartung
Sebastian Winkler - das material ist die sprache ist der inhalt ist der stoff
Reflector Contemporary Art Gallery, Bern
19. September – 24. Oktober 2019
Text: Marta Kwiatkowski
Garn, gespannte Fäden oder textile Gewebe bilden charakteristische Oberflächen und werden, ganz so wie zum Text verwobene Buchstaben und Worte, zu einer Erzählung. Für Sebastian Winkler sind es einerseits die essentiellen Fragmente von beobachteten Momenten, die er zu neuen Strukturen «verwebt», andererseits abstrakte Setzungen, deren Deutung für individuelle Bezüge offen bleibt. Das Material, sei es Text oder Textil wird zum Trägermedium von Erlebtem, Gesehenem, Gefühltem.
So liest sich auch die Ausstellung in der Galerie Reflector als komplexes Gewebe seiner künstlerischen Ausdrucksmittel zu denen Materialen, Konsistenzen, Stofflichkeiten oder auch Texte der konkreten und visuellen Poesie gehören. Wie Bruchstücke von Erinnerungen oder Dialoge die man im Geiste mit sich selber führt, reihen sich die Sätze in den Textarbeiten poetisch untereinander – die innere Melodie klingt mal bestimmt, mal zweifelnd, mal fragend. Weiter begegnet man den mit Draht geformten Objekten barry and michael und liv, aus kostbaren Stoffen. Sie stammen aus dem Archiv der Robt. Schwarzenbach & Co. AG, Thalwil, wo der Künstler in den letzen Monaten für neue Arbeiten recherchieren konnte. Es sind die Silhouetten der flüchtigen Begegnungen, die in der Rückschau vielleicht nur noch mit einer Extravaganz oder einem Charakterzug in Erinnerung bleiben und in den Arbeiten in Form von Farbe und Beschaffenheit zum Ausdruck kommen. Alles hat seinen definiert Ort, wie beispielsweise die großformatigen Stoffarbeiten l`hiverund carême, welche die japanischen Tradition des Rollbildes (Kakemono) aufgreifen, und die Sebastian Winkler eigens für die Ausstellung erarbeitet hat.
So bewegt man sich als BetrachterIn durch einen sorgfältig komponierten Raum, an die Hand genommen von Arbeiten, die jeweils eine Perspektive dieses vielschichtigen Gefüges offenlegen und damit die folgenden Arbeiten logisch erschliessen lassen. Sebastian Winkler lässt den Besucher auf intime Art und Weise in seine Gedankenwelt blicken, eine Gedankenwelt geprägt von Orten und zwischenmenschlichen Begegnungen, und offenbart damit die komplexe Vernetzung einer Wahrnehmung, wie wir sie alle in uns tragen, doch oft nicht zu einem Gesamtbild zusammenzufügen können. Dass die Fragmente insgeheim Erinnerungen wachzurufen vermögen und subtil unsere durch Erfahrungen geprägten Entscheide beeinflussen, wird uns dadurch unzweifelhaft vor Augen geführt. Und so erschliesst sich dem Betrachters eine Art «Mindmap» aus Sprache, Stoff, Material und wird so zum individuellen Inhalt…
english version
Yarn, taut threads or textile fabrics form characteristic surfaces and, just like letters and words woven into a text, they become a narrative. For Sebastian Winkler it is on the one hand the essential fragments of observed moments that he „weaves“ into new structures, on the other hand abstract settings whose interpretation remains open to individual references. The material, be it text or textile, becomes the carrier medium of the experienced, the seen, the felt.
Thus the exhibition at the Reflector Gallery reads itself as a complex structure of his artistic means of expression, including materials, consistencies, fabrics or texts of concrete and visual poetry. Like fragments of memories or dialogues that one carries in one’s mind, the sentences in the text works are poetically lined up among one another – the inner melody sometimes sounds determined, sometimes doubting, sometimes questioning. Further one encounters the wire-shaped objects barry and michael and liv, made of precious fabrics. They come from the Robt. Schwarzenbach & Co. AG archive in Thalwil, where the artist has been able to research for new works in recent months. These are the silhouettes of the fleeting encounters, which in retrospect may only be remembered with an extravagance or a trait of character, and which are expressed in the works in the form of color and texture. Everything has its defined place, such as the large-format fabric works l’hiver and carême, which take up the Japanese tradition of the scroll painting (Kakemono) and which Sebastian Winkler developed especially for the exhibition.
Thus the viewer moves through a carefully composed space, taken by the hand of works that each reveal a perspective of this multi-layered structure and thus logically open up the following works. Sebastian Winkler lets the visitor look into his world of thoughts in an intimate way, a world of thoughts shaped by places and interpersonal encounters, and thus reveals the complex networking of a perception that we all carry within us, but often cannot bring together to form an overall picture. The fact that the fragments can secretly evoke memories and subtly influence our decisions, which are shaped by experience, is thus undoubtedly brought to our attention. And in this way a kind of „mindmap“ of language, material and fabric is revealed to the viewer and thus becomes an individual content…
Sebastian Winklers Installation kein zurück (2015/16) gehört zu einer Gruppe seiner Arbeiten, die von einer individuellen, nicht zwangsläufig biographischen, aber subjektiven Erinnerung ausgehen. In Sprache und Materialität findet er ein System, welches die Erinnerung im Laufe der Arbeit abstrahiert und in das künstlerische Werk übersetzt. Winkler versucht dabei zum wesentlichen Charakter, zum Kern der Erinnerung vorzudringen. Befreit von individuellen Einfärbungen bleibt ein allgemeingültiger, übertragbarer Eindruck zurück – es gibt kein zurück, ich wollte das so nicht (2012), am meer waren wir nie (2015). Fragmente wie diese werden in den parallel zu den Installationen entstehenden Textarbeiten auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. Die Gedichte erzählen keine Geschichten, sondern scheinen sich nur um ihren eigenen Ursprung zu drehen. Den Betrachtenden ist durch diese Abstraktion die Möglichkeit gegeben, die Wörter mit ihrem individuellen Erfahrungsschatz zu lesen und eigene Erinnerungen auf sie zu projizieren. Ein ähnlicher Prozess kennzeichnet die Installationen. Winkler arbeitet hier mit einem ihm vertrauten Materialrepertoire, dessen Elemente er mit großer Sensibilität für ihre Wirkung auswählt: Schamottsteine, Holzkohle, Draht, Leinen und Stoffe sind Teile eines wiederkehrenden Vokabulars. Jedes Material besitzt spezifische Eigenschaften, die im Zusammenspiel mit den anderen Elementen wie auch der Präsenz des Ausstellungsortes selbst einen Assoziationsraum eröffnen. So könnte sich die in kein zurück thematisierte Unmöglichkeit des Zurückgehens mit dem Standhalten oder Nachgeben der in der Installation verwendeten Materialien gegenüber dem Akt des Verbrennens, welcher durch die Holzkohle angedeutet wird, zu Gedanken über das gewaltsame Auslöschen etwas Gewesenen verbinden. Aus diesem Rezeptionsprozess kann jedoch endgültig weder die Dechiffrierung einer fremden Erinnerung noch die Identifizierung mit einer eigenen Erinnerung erfolgen. Die Zeichen verschließen sich vor einer eindeutigen Entschlüsselung: die eigene Erinnerung stört sich an den Restspuren des Fremden. Zudem beginnt das Werk seinen Ausgangspunkt selbst in Frage zu stellen: gibt es kein zurück / es gibt. War es so, wie wir uns erinnern? Haben wir uns beim letzten Mal nicht anders erinnert? In Winklers Installation werden die Grenzen der Arbeit mit Erinnerung sichtbar, in der Unmöglichkeit, sie festzuhalten und zu vermitteln.
kehrtwenden:weitergehen
Kunstverein Gegenwart, Leipzig
8. – 29. April 2016
Katalogtext: Johanna Laub
Sebastian Winkler – ehren, alle
Stellwerk im Kulturbahnhof Kassel
31. Mai – 8. Juni 2014
Text: Ferial Karrasch
Die Ausstellung ehren, alle setzt sich zusammen aus der gleichnamigen Wandinstallation, der Bodenarbeit alle Tage und der Serie Bindungslehre. Es handelt sich bei allen Stationen um Beschreibungen von Momenten einer Beziehung; gleichsam einem Schiebebild ergeben die Anordnungen der einzelnen Elemente in den Arbeiten ein jeweils unterschiedliches Bild einer stets abstrakt bleibenden Verbindung.
Der Titel der Serie auf Papier ist somit in zweierlei Hinsicht programmatisch: Er verweist einerseits auf die inhaltliche Ausrichtung der Ausstellung, andererseits umfasst er die grundlegende künstlerische Herangehensweise Winklers, die sich durch eine Zusammenführung des Interesses für Textilien und der Auseinandersetzung mit der Frage, welche Formen eine zwischenmenschliche Bindung annehmen kann, auszeichnet.
„Bindungslehre“ bezeichnet im Textilbereich die Systematik der möglichen Verknüpfungen der Fäden, aus denen Stoffe gewebt werden. Anhand schematischer Darstellungen, sogenannter Bindungspatronen, werden die möglichen Verknüpfungen in entsprechenden Lehrbüchern veranschaulicht. Die ausgewählten Abbildungen der Serie auf Papier sind einem solchen Lehrbuch für Weber entnommen. Durch handschriftliche Ergänzungen oder Reduzierungen greift der Künstler in diese graphischen Ordnungen ein, wodurch abstrakte Bilder entstehen, deren Kompositionen verschiedene Personenverhältnisse andeuten. So lassen sich in vielen Abbildungen zwei Teile ausmachen, die zueinander in Beziehung gebracht werden können. Mal scheinen sie gleichberechtigt, mal dominiert der eine Teil über den anderen.
Ebenso verhält es sich bei der Wandinstallation, die sich aus drei einzelnen Arbeiten zusammensetzt. Auch hier werden Paare gebildet und abstrahiert dargestellt. Anstelle der analytischen Strenge der Papierarbeiten, erzählen hier die Stoffe, die sich hinsichtlich ihrer Materialität, sprich ihrer Textur und Farbe, unterscheiden, von den Eigenheiten der Personen. Anhand der unterschiedlichen Ausrichtungen der aufgezogenen Stoffe werden die Haltungen der Personen zueinander abgebildet. Mal ist ein Nebeneinander der beiden Partner, mal eine Bevormundung des einen durch den anderen erkennbar.
In der Bodenarbeit alle Tage kommen weitere narrative Elemente hinzu. Neben den Stoffen fungiert hier auch die Kohle als Umschreibung des Charakters dieser Konstellation. Sie kontrastiert in ihrer dunklen Unebenheit die strenge Ordnung der weißen, aus Stoffen gefalteten Flächen. Zwischen diesen beiden abstrakten Personenumschreibungen steht der sie verbindende Ort, abgesteckt aus zwölf Drahtlinien und auf einem Fundament aus Schamottsteinen gebaut.
Sebastian Winkler schafft in seinen Arbeiten Kompositionen, deren formale Strenge stets Raum lässt, innerhalb dessen sich eine Narration aufspannt. Die Handlung dieser Geschichte entsteht hierbei im Moment der individuellen Rezeption, ihr Fortgang ist den Ideen des Betrachters überlassen.
Die feingliedrige Arbeit von Sebastian Winkler gleicht einem Raum im Raum; ein Raum, der mit dem jeweiligen Umraum, in welchem es präsentiert wird, korrespondiert und sich zugleich von ihm abgrenzt. Ein Raum, der erzählt und gedanklich beschritten werden kann.
An der Straße mit dem Brunnen – bereits der Titel der Arbeit verrät, dass es Sebastian Winkler um mehr geht, als nur um eine skulpturale formale Setzung im Raum. Zwei quaderartige Strukturen, Wachspapiere, Dauerdosen im gebrochenen, fast geheimnisvoll wirkenden Mattgold, weiß bemaltes Holz – es sind einfache Mittel, Gegenstände aus dem Alltag oder der Natur, mit denen der Künstler zarte Erinnerungsbilder eröffnet. Gegenstände, in die Winkler oftmals nur minimal eingreift oder sie unverändert belässt.
So entstehen in der Assoziation und Erinnerung Bilder, die davon berichten könnten, dass etwas bewahrt werden will; der kurze Moment etwa, wenn Holz verbrennt, sich eine weiße Ascheschicht bildet, bevor alles zerfällt. Die Gegenstände, die Winkler in seinen Werken wählt, laden nicht nur zu einem gedanklichen Spaziergang mit zahlreichen möglichen Assoziationen ein, sondern zur eigenen Verortung und damit eigenen Empfinden in der Anschauung mit dem Werk.
beeing specific
Kunsthaus Baselland
01. Dezember 2013 – 05. Januar 2014
Text: Dr. Ines Goldbach
(Sebastian Winkler – An der Straße mit dem Brunnen, 2012; Draht, Dauerdosen, Holz, Wachspapier, 138 x 50 x 50 cm)
Sebastian Winkler – Kreuz, Kienitzer
Staatliche Kunsthalle Baden-Baden, Studioraum
28. Oktober – 25. November 2012
Text: Dr. Christina Irrgang
Die Grenzen zwischen Gegebenem und Vorgestelltem sind in Sebastian Winklers künstlerischer Arbeit fließend: In seinen Installationen, Objekten und Collagen zeichnet sich eine Topografie ab, die assoziativ von Erinnertem und Vorgestelltem berichtet, doch dabei stets einen Handlungsraum öffnet, der den Blick und die Perspektive des Hereintretenden einbindet. Winklers Arbeiten gehen von der Möglichkeit zur Verortung aus: sei es im kreisenden Blick, der sich sprachlich in seinen Gedichten ausdrückt, oder mittels der von ihm räumlich zueinander positionierten Objekte. Es sind Fragmente, die stets auf die Verschiebung und die Öffnung einer Begrenzung – imaginär wie physisch – verweisen, die erinnerte Orte miteinander verbinden und neue Räume schaffen.
Seine neue Arbeit „Kreuz, Kienitzer“, die Sebastian Winkler für die Ausstellung in 45cbm konzipiert hat, geht von zwei konkreten Orten aus, die er im Format Installation und Collage zusammen führt und darin der gedanklichen Verbindung des Örtlichen Form und Raum geben. Sichtbar sind zwei aus Draht geformte Gehäuse, deren Fundament je im Quadrat zueinander angeordnete Schamottsteine bilden, die zugleich einen verbindenden Steg zwischen den beiden Gehäusen ausprägen: das Gerüst einer imaginierten Architektur. Beide Gehäuse, die ihre räumliche Dimension durch den Draht erfahren, bergen auf ihrer Grundfläche verschiedene Stoffe, die von den Schamottsteinen durch ein Wachspapier getrennt und darauf gebettet sind. Während die eine Grundfläche einen kubischen, geschnürten Stapel weißen Leinens trägt, befinden sich auf der anderen Fläche unterschiedliche Stücke von Samt- und Seidenstoffen, die gefaltet, frei gelegt oder zu einer amorphen Figur geschnürt dem Ort Gestalt und Charakteristik geben. Die Ausrichtung der Gewebe verläuft dabei horizontal wie vertikal, sie streben in verschiedene Richtungen, werden aber von der Begrenzung des transparenten Raumgefüges eingefasst und benennen so auch verschiedene Systeme der Ordnung, die sie durch ihre Formen und Positionen zugleich definieren. Die Stoffe formulieren eine symbolische Zuordnung des jeweiligen Ortes, geben ihm auf poetischer Weise eine Färbung. Doch sind sie auch Substitute, ja Personifikationen, Portraits. Ähnlich der assoziativen Beschreibung dieser beiden Räume, stehen die verwendeten Stoffe als Stellvertreter für Personen und ihre Beziehung zu sich sowie zueinander, wobei sie zum Teil auch zuvor im Besitz jener Menschen waren, die hier nun durch sie repräsentiert werden und in ihren Nuancen – durch Muster, Struktur, Haptik, Gestalt und Farbe – erzählen.
Sebastian Winkler zieht in seiner Arbeit „Requisiten“ heran, die ihrerseits oft mit Biografischem verwoben sind, aber einen eigenen Erzählraum für den Schauenden aufspannen. Spuren einer fremden, rekonstruierten Erinnerung, oder ein Anhaltspunkt, den eigenen Gedankenraum zu öffnen? Der Künstler erzeugt mit seinen Arbeiten narrative Gefüge, für die er den Ort (physische und fiktive Szenen), die Akteure (Formen und Elemente) und die Atmosphäre (Materialien) definiert. Er zieht den Rahmen, oder viel mehr die Grenze dabei so, dass sie offen bleibt, verschiebbar – eine Koordinate, die als Anhaltspunkt dient, die aber immer wieder auch überschritten werden kann.
Das Schreiten wird in seiner Arbeit „Kreuz, Kienitzer“ so auch zum Bestandteil der Installation, die be- und überschritten werden darf, denn sie definiert sich nicht nur über einen, sondern über wechselnde Betrachterstandpunkte, ganz gleich der einzelnen Objekte, die – immer wieder aus einer anderen Richtung – in differenzierten räumlichen Bezugsverhältnissen gesehen werden können. Sebastian Winkler schlägt eine mögliche Standpunktverortung vor. Und so wird die Installation durch zwei Papierarbeiten, exemplarisch aus einer Folge gewählt, an der Frontseite des Ausstellungsraums erweitert. Sichtbar sind hier zwei Collagen, die sich je aus einem ungegenständlichen Tuschedruck und der Kopie eines fotografischen Fragments herausbilden. Ähnlich der Gehäuse der Installation, fassen hier kubische Linienstrukturen die zum einen von Zufall geprägten Raumstrukturen der Drucke, und die andererseits von Winkler an den entsprechenden Orten aufgenommenen Fotografien zusammen, die ihrerseits durch ihre Reproduktion und dem Rückgriff auf das Ausschnitthafte einer konkreten Darstellbarkeit entzogen sind, aber Einblicke gewähren.
Sebastian Winkler beschreibt Raumgefüge, die ihrer architektonischen Begrenzung entwachsen, Stoffe, die sich durch Schnürung körperlich im Raum entfalten: eine Poetik des Unsagbaren, dessen Dramaturgie sich hier durch eine visuelle Bezugnahme artikuliert und einzig im Titel der Arbeit sprachliche Referenz bietet. Die Elemente der Arbeit „Kreuz, Kienitzer“ changieren zwischen einem Definieren und Auflösen von Raum. Strukturen werden angedeutet, aber entbinden sich auch dieser in ihrer Fragilität, in der Weiche der Konturen, in den Binnenstrukturen und Verzweigungen des Gewebes, in dem Fliehen der markierten Grenze.
Raumgefüge, die ihrer architektonischen Begrenzung entwachsen, Stoffe, die sich durch Schnürung körperlich im Raum entfalten, Papier, das Worte, Bilder, und Objekte trägt und im Kontext der Gegenüberstellung ihrer Physis entbindet – die Grenzen zwischen Gegebenem und Vorgestelltem sind in Sebastian Winklers künstlerischer Arbeit fließend. Winkler verwendet gefundene oder ihrem Kontext entbundene Gegenstände oder Bilder, die von einem von ihm erinnerten Erlebnis berichten, das dem Betrachter in seinem realistischen Detail verschlossen bleibt. Der Künstler zieht „Requisiten“ heran, ihrerseits oft mit Biografischem verwoben, die einen eigenen Erzählraum für den Schauenden aufspannen. Spuren einer fremden, rekonstruierten Erinnerung, oder ein Anhaltspunkt, den eigenen Gedankenraum zu öffnen?
Schamottsteine zum Beispiel, die einst für Winkler in ihrer baulichen Charakteristik Verwendung fanden, bilden in seinen Installationen nun das Gerüst einer imaginierten Architektur. Der Künstler errichtet so bei Ich wollte das so nicht mit Stein, Holz, Karton, Papier, Stoff und Metall eine Kulisse, bei der jedes Element zugleich Bühnenbild und Protagonist der von ihm errichteten Szene ist. „[…] das Theater ist dazu da, sich das Unvorstellbare vorzustellen“ 1 , schreibt Alain Badiou in einer kurzen Abhandlung über das Endliche und das Unendliche. Das Theater als Raum der Imagination gedacht, als Ort der Inszenierung, als Schauplatz, der mit unseren (Wunsch)gedanken und unserer eigenen Fähigkeit zur Vorstellung des im Spiel bloß Angeregten spielt. Das Theater als Synonym der Verwandlung, der Magie, der Loslösung vom Realen.
So regt Winkler die Vorstellungskraft des Betrachtenden in seinen Arbeiten zum einen visuell an, doch lässt er mitunter auch sprachliche Elemente einfließen: Durch das Einbetten von poetischen Texten, die er im Stile der konkreten Poesie verfasst, legt er manchen seiner Schaustücke ein Skript anbei. Ich wollte das so nicht ist hier also auch der Titel des Gedichts, das Teil der gleichnamigen Installation ist. Winklers Sprache windet sich fast architektonisch um einen wechselnden Betrachterstandpunkt, wie die einzelnen Objekte – immer wieder aus einer anderen Richtung – in differenzierten räumlichen Bezugsverhältnissen gesehen werden können. Eine Folge von Szenen, der keine Reihenfolge obliegt. Das Wort als Körper und Kommentar in einem Gefüge, das von Bezugnahme – zwischen Material, Raum und Erinnerung – handelt.
Winklers „Portraits“ – gewundene, zu amorphen Strängen mit Draht verschnürte Stoffe, die singulär, paarweise sowie in Gruppen liegen oder hängen – schließen hieran an. Ähnlich der Objekte in seinen Installationen, die als Substitut oder Synonym für vollzogene Taten erscheinen, bestehen die Gewebestränge als Stellvertreter für Personen und ihre Beziehung zueinander. Oft war der jeweils verwendete Stoff zuvor im Besitz jener Menschen, die anschließend durch ihn repräsentiert werden. Ein erinnertes Bild wird hier zur Form, die es nunmehr abstrahiert verbildlicht.
Sebastian Winkler erzeugt mit seinen Arbeiten narrative Gefüge, für die er den Ort (physische und fiktive Szenen), die Akteure (Formen und Elemente) und die Atmosphäre (Materialien) definiert. Er zieht den Rahmen, oder viel mehr die Grenze dabei so, dass sie offenbleibt, verschiebbar – eine Koordinate, die als Anhaltspunkt dient, die aber immer wieder auch überschritten werden kann. Die Collage-Serie randbebauung macht dies am Beispiel von Aufnahmen von Architekturmodellen deutlich, wie sie in den 1980er und 90er Jahren in einem japanischen Architekturmagazin abgebildet wurden: Modelle von städtischer Randbebauung, die in Winklers Collagen die Kante eines druckgrafischen Blattes definieren, das sich seinerseits über die Begrenzung eines zeichnerischen Raumgefüges schiebt – und ähnlich wie im architektonischen Kontext eine mögliche Standpunktverortung vorschlägt.
Die Möglichkeit zur Verortung ist in Sebastian Winklers Arbeiten entscheidend: sei es im kreisenden Blick, der sich sprachlich in seinen Gedichten ausdrückt, oder mittels der von ihm räumlich zueinander positionierten Objekte, Fragmente die stets auf die Verschiebung und die Öffnung einer Begrenzung – imaginär wie physisch – verweisen. In seinen Installationen, Objekten und Collagen zeichnet sich eine Topographie ab, die assoziativ von Erinnertem und Vorgestelltem berichtet, doch dabei stets den Handlungsraum öffnet, ihn aus der Perspektive des Hereintretenden zu betrachten.
1 Badiou, Alain: Das Endliche und das Unendliche, Passagen Verlag, Wien, 2012, S. 19.
Fragen und Antworten an den vorgestellten Raum – Gedanken zu Sebastian Winklers Installationen, Objekte, Collagen
Text: Dr. Christina Irrgang 2012
L x H x B x Mensch
Kulturpalast Wedding International, Berlin
24. Februar – 4. März 2012
Text: Ferial Karrasch
Die Ausstellung LxBxHxMensch setzt sich mit Fragen der Räumlichkeit, beziehungsweise mit der individuellen Positionierung innerhalb eines Raumes, sei dies ein konkreter Ort oder ein gesellschaftliches Umfeld, auseinander. Die unterschiedlichen Positionen geben einen Einblick in die Art und Weise, wie mit bestehenden Räumen umgegangen wird, wie sie modifiziert werden, wie sichtbare Räume unsichtbar und unsichtbare Räume sichtbar gemacht werden und schließlich, wie sich das Individuum zu ihm in Beziehung setzt.
[…]
Auch die Arbeit Verortung von Sebastian Winkler erfordert eine Anpassung des Betrachters: Der fragile Drahtquader verhindert das Durchqueren des Raumes, in dem er installiert ist und wirkt sich somit verändernd auf ihn aus. Gleichzeitig bestimmt der bestehende Ort die Maße des Quaders und stellt den Bezugspunkt für den neu entstandenen Raum dar. Die Linien, als raumdefinierendes Element, treten auch in der Collage Randbebauung auf. Als Grundlage der Collage verwendete Sebastian Winkler das Abfallprodukt, wie es bei einem Tiefdruckverfahren entsteht. Die Überreste der Farbe bilden ein wirres Nebeneinander und Übereinander undefinierbarer, zufälliger Formen und Strukturen, in welchem die akkuraten Linien einen ebenfalls ungewissen, nicht lokalisierbaren Ort abstecken. Erst durch das winzige Architekturelement, eine verkleinerte Kopie aus einem Architektur-Katalog, wird eine Verortung möglich. Wie die gleichnamige In-Situ-Arbeit, ist auch Randbebauung eine Auseinandersetzung mit der persönlichen Orientierung im Raum.
Die Installation, als eine Erzählung in drei Kapiteln, handelt von Gedächtnisspuren: von ihrem Weg aus unserem Unterbewussten an die Oberfläche unseres Bewusstseins, wo sie sich mit neuen Sinneseindrücken vermischen und sich letztlich zu unserer Persönlichkeit zusammenfinden.
Den Beginn des Weges markieren die sechs Aquarelle. Beinahe transparent, flüchtig, als könne sie nicht einmal das Papier als Bildträger an sich binden, sind sie ebenso ephemer, wie das Gefühl, welches uns beschleicht, wenn ein Sinneseindruck der Anblick eines bestimmten Gegenstands, die Wahrnehmung eines Geräuschs oder eines Geruchs eine schlummernde Erinnerung weckt.
Zur Inszenierung der Erzählung beschränkt sich Sebastian Winkler auf die Verwendung von Requisiten. Hierdurch bleibt der Handlungsstrang, den die Bilder ergeben, unbestimmt und es entstehen zahlreiche Anknüpfungspunkte für die individuellen Gedächtnisspuren des Betrachters, der dazu aufgefordert ist, die Geschichte zu seiner eigenen zu machen.
In starkem Kontrast zu den Aquarellen stehen die Arbeiten „leise sinkt das tragwerk nieder“ und „Dauerdosen, strenge Reihe“. Die Dosen weisen Gebrauchsspuren auf, der Staub auf ihnen lässt darauf schließen, dass sie seit langem nicht mehr verwendet wurden. Auch die Kittelschürze, in typischer 1970er Jahre-Mode ist offensichtlich ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit. Die beiden Arbeiten veranschaulichen somit den Schritt der Erinnerungen aus dem Bereich des Transitorischen in den der konkreten Vorstellung.
Zugleich zeigen die Arbeiten eine weitere Funktion unseres Gedächtnisses auf: Um zu einem Fundus für unsere Wahrnehmungen werden zu können, aus dem sich unsere Phantasie bedienen kann und aus welchem sich letztlich unser (Bewusst-)Sein konstituiert, muss es notwendigerweise die Funktion eines Speichers besitzen. Wir geben unsere Sinneseindrücke in die Obhut des Vergessens, wobei es sich nicht um ein zersetzendes, sondern um ein beschützendes Vergessen handelt. Wie die Einmachdosen etwas zu Konservierendes beinhalten, verwahrt das Gedächtnis unsere Erinnerungen als sorgsam verstaute Reserven auf.
Gleichsam dem Arbeitskittel, der abends nach verrichteter Arbeit abgestreift und weggelegt wird, geben wir einen großen Teil der wahrgenommenen Bilder in einen „nächtlichen Schacht“, in dem sie isoliert von der Zeit und der Außenwelt verbleiben, bis sie durch Zufall geweckt und aus dem Schacht an die Oberfläche unseres Bewusstseins gebracht werden.
Diese bewahrende Funktion unseres Gedächtnisses wird des Weiteren durch die Verwendung des Drahtes veranschaulicht. Seine zurückhaltenden Linien symbolisieren die Architektur unseres Gedächtnisses. Im Zusammenhang mit den Dosen nehmen sie eine tragende Funktion ein und ermöglichen den Blick auf die Dosen aus einer vergangenen Perspektive: die Höhe des Brettes entspricht der Höhe des Tisches, auf den die Dosen einst gereiht wurden. In der Arbeit „leise sinkt das tragwerk nieder“ funktionieren die Drähte als etwas Einschließendes, als etwas von der unmittelbaren Umgebung Trennendes. Die Härte und Kälte des Materials stehen im Gegensatz zu der Holzrahmung der Aquarelle und sind als der Schritt von einer ersten schwachen, hin zu einer konkreten Erinnerung lesbar.
Die Dosen, in ihrer Funktion als Aufbewahrungsbehältnis, und die Kittelschürze mit ihrer sich andeutenden Körperlichkeit, sind Sinnbilder der Welt des Materiellen, des Körpers, der gleichsam der „Behälter“ ist, in dem sich das Gedächtnis, die Welt der reinen Dauer und des Ichs befindet. Solange wir uns ihrer nicht besinnen, wissen wir nicht, wieviele solcher Bilder der Vergangenheit in uns ruhen. Erst durch ihr Heraustreten aus dem Vergessen werden sie zu unseren Erinnerungen, gehen sie in unseren Besitz über, da wir sie als bereits „gehabte Anschauungen“ identifizieren.
Der Künstler richtet sich mit seiner Arbeit an die Vorstellung des Betrachters, der an die einzelnen Fragmente anknüpfen kann. Hierdurch wird zum einen die Vielfalt der bestehenden Welten veranschaulicht, welche wir uns durch unsere Erinnerungen konstituieren, zum anderen wird offensichtlich, wie sich diese individuellen Welten ohne unser Wissen mit denen anderer Menschen kreuzen und wieder auseinanderlaufen, um an einem anderen Ort, zu einem anderen Zeitpunkt wieder zusammen zu finden.
Five in a Row - Sebastian Winkler 11/85
Kunstraum:Morgenstrasse, Karlsruhe,
Juni 2011
Text: Ferial Karrasch